Podiumsdiskussion zu "Flucht und Vertreibung"
(13.02.2017) Zwei Stunden reichten kaum, um den Podiumsgästen und ihren Erfahrungsberichten gerecht zu werden. Denn um "Geschichten damals und heute" ging es bei der Abschlussveranstaltung zum Themenmonat „Flucht und Vertreibung“ am 17. Februar im Rathausfoyer.
Ursula Kroll
Zunächst berichtete Ursula Kroll, 1936 als viertes von fünf Kindern einer Arbeiterfamilie in Stettin geboren, von ihrer Fluchterfahrung. Sieben Jahre alt war sie, als 1943 die ersten Bomben im Stadtgebiet einschlugen. Die Angriffe der britischen Royal Air Force steigerten sich täglich. „Wir haben nachts nicht mehr geschlafen“, erinnert sich Ursula Kroll an diese Zeit, in der sie immer wieder in den Luftschutzkeller fliehen mussten.
„Ich kann heute in keinen Keller gehen, trotz der vielen Jahre. Auch bei Sirenengeheul sind die Erinnerungen sofort wieder da. Es war schlimm“, berichtet die 80-Jährige. Im September 1943 vernichteten die Bomben den Straßenzug mit der Wohnung der Familie. Die Mutter wird mit den fünf Kindern mit Hilfe der Deutschen Mission Richtung Osten evakuiert. „Der Bahnhof blieb Gott sei Dank von den Angriffen verschont“, erzählt die Zeitzeugin. 200 Kilometer ging es nach Pollnow, nur mit einem Rucksack und wenigen Habseligkeiten. Hier wurde die Familie einquartiert, einige Einheimische spendeten Tisch und Stühle. Ursula Kroll wurde zum zweiten Mal eingeschult. Die Kinder fühlten sich wieder sicher, die Mutter erwartete ein Baby.
Doch im Januar 1945 wurde auch Pollnow zum Ziel von Angriffen. Die Raketen sowjetischer Stalinorgeln waren schon von weitem zu hören. Wieder flieht die Mutter mit ihren Kindern, im tiefsten Schnee in einem Treck aus Menschen, zum nächsten Bahnhof. Von dort geht es in einem Lazarettzug mit verwundeten Soldaten zurück nach Stettin. „Neun Tage waren wir unterwegs, hatten nichts zu essen und wurden von Tieffliegern bombardiert“, berichtet Ursula Kroll. Irgendwann stieg die Mutter aus, weil das Baby zu verhungern drohte. Ursula und ihre zwei Jahre ältere Schwester sollten weiterfahren, ein Treffpunkt bei einer Bekannten in Pasewalk wurde vereinbart. „Verlaust und verdreckt kamen wir irgendwann dort an“, berichtet Kroll. Die Mutter war bereits da und überglücklich, ihre Mädchen zu sehen.
Doch die Reise ging weiter, mit einem Zug nach Norden. In einem Bauernhof bei Utzedel wurde die Familie einquartiert. „Hier waren wir nicht willkommen. Als ‚Polacken‘ wurden wir beschimpft, aber wir waren doch Deutsche“, empört sich Ursula Kroll noch heute. Im März 1945 stand die Sowjetarmee auch hier. An die Russen hat sie keine schlechten Erinnerungen, im Gegenteil: „Ein Militärarzt gab meiner kranken Mutter und dem Baby Medizin, sonst hätten sie vielleicht nicht überlebt.“ Auch der Vater kam aus dem Krieg zurück zur Familie. Der gelernte Tischler baute Betten und Möbel, was das Ansehen der Flüchtlingsfamilie im Dorf steigerte. In Utzedel wurde Ursula Kroll zum dritten Mal eingeschult. Die Eltern haben über ihre Kriegserfahrungen nie gesprochen. Sie selbst kam später als Lehrerin mit ihren Schülern über diese Zeit ins Gespräch.
Siglinde Kenzler
Ein ähnliches, und doch ganz anderes Schicksal, widerfuhr dem zweiten Podiumsgast, Siglinde Kenzler. 1935 in Wehlau bei Königsberg geboren, sieben Geschwister. Die Eltern besaßen ein Sägewerk, der Vater arbeitete hier als Kriegsverpflichteter. Die Schüler mussten Frontbriefe an Soldaten schreiben und Päckchen packen. 1944 begannen die Luftangriffe. „Der Russe“ wurde Kindern und Erwachsenen als Bestie mit Messer im Mund beschrieben.
Im Januar 1945 floh die Familie zu Fuß in einem Flüchtlingstross Richtung Friedland. Die Russen, die überraschenderweise „normal wie wir aussahen“, fingen die Flüchtlinge ab. Die Familie wurde getrennt, der Vater abtransportiert, „wohin, wussten wir damals nicht“, erzählt Kenzler. Andere, auch Mutter und Kinder, kamen in ein russisches Lager, wo viele erschossen wurden. Der Familie gelingt die Flucht, sie geht zurück nach Wehlau, meldet sich bei der russischen Kommandantur und bekommt eine Ein-Zimmer-Wohnung zugewiesen.
Doch es werden immer mehr russische Familien zwangsangesiedelt, die bei der Verteilung von Essen, Wohnraum und Arbeit bevorzugt behandelt werden. „Für die Deutschen gab es nichts mehr“, berichtet die Zeitzeugin. 1946/47 kommt es zu einer Hungersnot in Ostpreußen. Viele Deutsche fahren nach Litauen, wo sie Essen bekommen. Auch die Mutter nimmt die Reise regelmäßig auf sich. Von ihrer letzten, besonders langen Tour kommt sie völlig verändert und entkräftet am 2. Juni 1947 am Bahnhof an. Siglinde und ein Bruder holen sie ab, doch die Mutter stirbt wenig später. Die Kinder werden zu „Wolfskindern“.
Der Bruder beschließt, mit den Geschwistern nach Litauen zu gehen. Doch die Kinder verlieren sich unterwegs. Siglinde kommt bei einer russischen Militärfamilie in Litauen als Dienstmädchen unter. Durch den Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes erhält sie an Weihachten 1954 die Nachricht, dass ihre Geschwister in einem Kinderheim im Kyritz in der Nähe der Großeltern leben. 1956 zieht auch sie in die damalige DDR.
Adnan Alahamad
2001 wird Adnan Alahamad geboren, mit seiner Familie lebt er in Damskus. Er ist zehn Jahre als, als der Bürgerkrieg in Syrien 2011 in Folge der gewaltsamen Niederschlagung von Protesten gegen das autoritäre Regime der Regierung ausbricht. Er sieht tote Menschen auf der Straße, ist aber zu jung, um die Ereignisse zu verstehen.
2015 beschließt er nach Deutschland zu fliehen. Mit einem Rucksack macht er sich, zusammen mit 40 anderen Flüchtlingen, auf den Weg: Libanon, Türkei, von dort mit einem Schlauchboot nach Griechenland, weiter über Serbien, Ungarn, Österreich und schließlich nach Berlin, wo ein Onkel lebt. Hier erfährt er, dass das Haus seiner Familie 2016 von Bomben getroffen wurde. Die Familie floh daraufhin in die Türkei, wo sie sich noch heute befindet.
In Birkenwerder wiederum besucht Adnan die 10. Klasse der Regine-Hildebrandt-Schule. Zusammen mit zehn anderen Jungs wohnt er in einer WG. „Wir sind eine Familie“, sagt er über die sechs Syrer und vier Afrikaner. In Deutschland hat er sowohl schlechte als auch gute Erfahrungen gemacht: „Es gibt Menschen, die Ausländer nicht mögen, und andere, da ist alles gut.“ Im Übrigen seien die kulturellen Unterschiede zwischen Deutschland und Syrien nicht so groß. Der Schlüssel zur Integration ist für ihn die Sprache. Aber auch die Musik, denn Adnan ist Rapper und trat bereits bei mehreren Veranstaltungen vor Ort auf, so auch an diesem Abend.
Flucht damals und heute
Die Erfahrungsberichte der drei Flüchtlinge versuchte der ebenfalls eingeladene Soziologe und Migrationsforscher Dr. Marcus Engler anschließend einzuordnen. „‘Die Flucht‘ gibt es nicht“, stellte er auf Nachfrage von Moderatorin Manuela Stamm klar. „Unsere verbreitete Vorstellung ist: die Menschen gehen weg, kommen hier an und sind da.“ Wie die Beispiele gezeigt hätten, unterscheide sich Flucht aber in Gründen, Dauer, Ressourcen oder dem Weg. Viele Flüchtlinge seien zudem mehrfach vertrieben. „Für die Betroffenen ist Flucht ein vielschichtiger Prozess“, so Engler.
Im Gegensatz zu damals sei die Aufnahmegesellschaft heute besser vorbereitet. „Damals herrschte große Not für alle, die Verteilungskonflikte waren größer, es gab Zwangszuweisungen in fremde Wohnungen“, erläuterte der Wissenschaftler, wie es auch innerhalb ethnisch homogener Gruppen zu Ablehnung und Vorurteilen kommt. Heute treffen die Flüchtlinge in Deutschland auf professionelle Aufnahmestrukturen, erhalten ein Dach über dem Kopf, medizinische Versorgung und Essen.
Als Faktoren dafür, dass Integration gelingt, nennt der Migrationsforscher Geduld, Anschluss an die einheimische Bevölkerung und die Sprache. „Auf die Leute zuzugehen“ lautete dann auch das einhellige Fazit des Abends.