Die S-Bahn
Seit 75 Jahren ohne Dampf
"Die elektrische Eisenbahn ist nichts weiter wie zwei große dynamoelektrische Maschinen, von denen die eine auf kleinen Rädern montiert ist", so stellte Werner Siemens seine Besucherattraktion auf der Berliner Gewerbe-Ausstellung 1879 vor. Es dauert aber noch ein paar Jahrzehnte, ehe der erste elektrisch betriebene Personennahverkehrszug fährt. Vom Stettiner Bahnhof (Nordbahnhof) an der Invalidenstraße geht es am 8. August 1924 ohne Qualm und Ruß nach Bernau. Zwischen 1924 und 1927 werden zunächst die Nordstrecken elektrifiziert, und dann erfolgt ab 1928 die umfassende "Elektrisierung" der übrigen Nahverkehrsstrecken.
In Hohen Neuendorf beginnen die vorbereitenden Arbeiten im Frühjahr 1924. In der Schönfließer Straße starten die Umbauarbeiten am Bahnhof, und der Bahnhof Stolper Straße ist noch einmal für kurze Zeit alleiniger Halt. Am 11. Dezember 1924 ist der neue Bahnhof fertig, für den nun wegfallenden Bahnhof Stolper Straße der Süd-Ausgang geschaffen worden. Sehr zum Unmut der Bürgerschaft, wie in der Hohen Neuendorfer Schulchronik zu lesen ist: "Die allgemeine Unzufriedenheit der Einwohner mit der Beschaffenheit dieses Gebäudes kam durch Nichtbeteiligung an der Feier zum Ausdruck. Die Bahn hat den tatsächlichen Verkehrsverhältnissen nicht Rechnung getragen. Ein zweiter Südausgang nach der Franz- u. Ruhwaldstr. kann die Bahnhofsmisere nicht beheben."Im Sommer 1925 ist dann die Premiere: "Der erste elektrische Zug passierte heute Vormittag um 9.39 Uhr unseren Bahnhof (Hohen Neuendorf). Es handelte sich um einen Leerzug. Im ersten der fünf neuen Wagen befanden sich die Herren von der Direktion und vom Betriebsamt. Der Zug brauste in einer beträchtlichen Geschwindigkeit durch die Station und kehrte 10.10 Uhr aus Birkenwerder zurück." (Nordbahn-Nachrichten, 3. Juni 1925).
Seit dem 1. Dezember 1930 gibt es den offiziellen Begriff "S-Bahn" für das Berliner Stadtbahnsystem. Entstanden war diese Verkehrslösung ab der Mitte des 19. Jahrhunderts. Zunächst nur für den Güterverkehr gedacht, kam bald die Idee einer "Gürtelbahn" für den Personenverkehr auf, die in einem großen Kreis um die Stadt geführt werden sollte. Pankow, Weißensee, Lichtenberg, Rixdorf (Neukölln), Tempelhof, Schöneberg, Wilmersdorf und Charlottenburg, damals noch j.w.d., sollten einbezogen werden. Der Gedanke dabei war, den Arbeitenden die Möglichkeit zu bieten, billigere Wohnunterkünfte als in Berlin in den genannten Orten zu finden. 1872 fuhr der erste Personenzug, geschlossen wurde der Ring 1877. Was noch fehlte war eine Verbindung quer durch Berlin.
Eine Stadteisenbahngesellschaft begann 1875 mit dem Bau, aber die Finanzdecke reichte nicht, und drei Jahre später übernahm der Staat den Bau der Stadtbahn. Im Frühjahr 1882 ging es dann vom Schlesischen Bahnhof (Ostbahnhof) zum Bahnhof Charlottenburg.Der Vorortverkehr wurde zunächst auf den Fernbahngleisen abgewickelt. Sehr schnell kommt man davon ab, die Sicherheit der Fahrgäste und andere Gründe machen es erforderlich. In Richtung Norden geht es vom Stettiner Bahnhof, im Sommer 1892 für den Vorortverkehr freigegeben. 1933 entsteht der Plan einer Nord-Süd-Bahn, in die die Nordbahn-Strecke mit der Fertigstellung des ersten Teilstückes zwischen Humboldthain und Unter den Linden Ende Juli 1936 eingebunden wird. Weitere Abschnitte folgen im Herbst 1939. Im Zusammenhang mit dem Bau der Nord-Süd-Strecke werden die Vorortgleise am Stettiner Bahnhof in einen Tunnel gelegt. In den letzten Kriegstagen, Anfang Mai 1945, wird der S-Bahn-Tunnel unter dem Landwehrkanal gesprengt, die Überflutung reicht bis an den Stettiner Bahnhof heran.
Bereits Ende Mai 1945 gibt es den Befehl der sowjetischen Besatzungsmacht, diesen Tunnel wieder zu reparieren. Vom Stettiner Bahnhof geht es ab dem 13. August 1945 wieder Richtung Norden. Abschnitt für Abschnitt wird die Strecke hergerichtet und ab Herbst 1947 ist der Bahnverkehr durchgehend möglich.Dann kommt der 13. August 1961. Die Signale fallen auf Rot: Die Bahnhöfe Potsdamer Platz, Unter den Linden, Oranienburger Tor und Nordbahnhof werden dunkel und zu Geisterbahnhöfen. Nur der Bahnhof Friedrichstraße bleibt für Transit-Reisen offen - 1 U-Bahn-Gleis, 1 S-Bahn-Gleis. Ein geschlossenes Verkehrsnetz wird zerschnitten.
Hohen Neuendorf wird Endbahnhof für alle aus Richtung Oranienburg Kommenden. Eine neue S-Bahn-Verbindung nach Berlin muss her. Bereits am 19. November 1961 kann der damalige Volkskammerpräsident Johannes Dieckmann die erste Fahrt nach Berlin-Blankenburg freigeben."Neue S-Bahn fährt / Festlich geschmückt fuhr am Sonntagmorgen der erste S-Bahn-Zug über die neue Strecke Oranienburg - Berlin, nachdem Dieckmann das weiße Band auf dem Bahnhof Oranienburg durchschnitten hatte. Die Bauzeit betrug 72 Tage." (Märkische Volksstimme, 22.11.1961)"Am Sonntag, dem 19. d.M., wird das erste Mal die S-Bahn zwischen Oranienburg und Berlin fahren. Im ersten Zug, der etwa gegen 9.30 Uhr durch Bergfelde fährt, wird im 1. Wagen der Minister Kramer sitzen, den wir alle herzlich begrüßen wollen. Entsprechende Bekanntmachungen hierzu sind bereits geschrieben." (4. Sitzung des Gemeinderates Bergfelde, 17.11.1961)
An Bergfelde fährt der Zug noch vorbei.Erst am 27. Mai 1962 ist es soweit:"Der neue Bahnhof Bergfelde wird am 27. Mai 1962 in Betrieb genommen. Die Züge verkehren ab Bergfelde in Richtung Berlin stündlich." (Neue Oranienburger Zeitung, 23.5.1962)Es bleibt auch ein Westberliner S-Bahn-Netz, das von den Westberlinern, besonders kurz nach dem 13. August, boykottiert wird. Die Verbindungen werden immer mehr eingeschränkt.1984 übernimmt die BVG die Verwaltung der S-Bahn in Westberlin, es beginnt nach und nach die Wiederaufnahme von bisher stillgelegten Strecken. So können die Frohnauer ab dem 1. Oktober 1984 wieder mit der S-Bahn zum Bahnhof Gesundbrunnen fahren.
In der Nacht vom 9. zum 10. November 1989 fällt die Mauer - das hässlichste Bauwerk, nicht nur Berlins. Die "Geisterbahnhöfe" erwachen zu neuem Leben, das zerrissene S-Bahn-Netz zwischen Ost und West wird neu geknüpft. Nur einige Daten:2. Juli 1990 Der S-Bahnhof "Oranienburger Straße" ist wieder offen.1. September 1990 Unter den Linden und Nordbahnhof sind wieder offen.Damit die S-Bahn wieder durchgehend von Oranienburg bis Wannsee fahren kann, ist es notwendig, einen Teil der Strecke von April 1991 bis Frühjahr 1992 stillzulegen. Am 31. Mai 1992 geht es zum ersten Mal nach dem Mauerbau wieder von Frohnau nach Hohen Neuendorf.
Jürgen Radtke