11 Thesen zum Tag des Grundgesetzes
(24.05.2016) Zum Tag des Grundgesetzes am 23.05.2016 stellte Pfarrer Christian Reich elf Thesen zum Thema "Flucht und Asyl" im Ratssaal der Gemeinde Birkenwerder vor. Organisiert wurde die Veranstaltung von Nordbahngemeinden mit Courage und dem Kulturkreis Hohen Neuendorf. Die teils provokaten Thesen sorgten für angeregte und nachdenkliche Gesprächsbeiträge bei den rund 20 Besuchern, von denen viele selbst in der Flüchtlingsarbeit und in Willkommensinitiativen aktiv sind. Erstellt hat Christian Reich das Arbeitspapier als Diskussiongrundlage im Religionsunterricht des Oranienburger Georg-Mendheim-Oberstufenzentrums. Im Folgenden sollen die Thesen im Einzelnen aufgeführt werden, um zum Nachdenken anzuregen:
1. These: Die Flüchtlingskrise ist zuerst und vor allem für die betreffenden Flüchtlinge eine Krise, weil sie sich durch politische oder wirtschaftliche Gründe dazu genötigt sahen, die Strapazen, Risiken und Gefahren einer Flucht auf sich zunehmen. Wer sich bewusst auf eine Flucht begibt, beweist Lebensmut und vielleicht auch die Fähigkeit zu Kreativität.
2. These: Für Europa und insbesondere für Deutschland ist die Flüchtlingskrise nur deshalb eine Krise, weil Politik und Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten die Augen vor derjenigen Realität mehr oder weniger verschlossen haben, die weitgehend durch sie selbst hervorgebracht wurde. Daraus ergibt sich die 3. These.
3. These: Die Flüchtlingskrise ist vor allem eine Folge westlicher Außen- und Wirtschaftspolitik seit dem II. Weltkrieg, im Grunde aber beginnend mit dem europäischen Kolonialismus. Auf den Punkt gebracht: Die westlichen Gesellschaften ernten nun, was sie bis in die jüngste Zeit hinein selbst gesät haben und Tag für Tag immer noch säen. (1) Diese Erkenntnis müsste uns alle zu Scham sowie Bescheidenheit und zu einer daraus resultierenden selbstverständlichen Hilfsbereitschaft überführen. Kurz gesagt: Wir Europäer sollten froh und dankbar dafür sein, dass die Mehrheit der Flüchtlinge (bisher) als Hilfesuchende und nicht als Fordernde oder gar uns Hassende nach Europa strömt; denn dazu hätten die von uns ausgebeuteten Völker alles Recht der Welt!
4. These: Darüber zu diskutieren, ob wir Flüchtlinge zu uns nach Europa lassen wollen oder wie viele, ist Zeit- und Kraftverschwendung. Sie sind bereits da und werden auch in Zukunft Wege zu uns finden. Ein gebildeter Blick in die Vergangenheit lehrt, dass Völkerwanderungen zur Normalität der Weltgeschichte gehören und sich nicht aufhalten lassen. Deshalb ist zunächst nur eine Frage interessant und deren Beantwortung nötig: Wie können wir diese Menschen in unsere Gesellschaft integrieren? Zudem sind die bisherigen Flüchtlingsströme nur der Anfang: "An der zunehmenden Zahl von Klimaflüchtlingen in den nächsten Jahren und Jahrzehnten werden wir ein weiteres Mal die Diskrepanz zwischen Tätern und Opfern einer ökonomisch wie ökologisch desaströsen neoliberalen Wirtschaftspolitik beobachten können." (2) Aus dieser Einsicht ergibt sich eine zweite Frage: Was müssen und können wir tun, um in Zukunft die Fluchtursachen zu minimieren?
5. These: Die Bewältigung der (aktuellen) Flüchtlingskrise kann nur darin bestehen, dass – neben der Beseitigung der Fluchtursachen durch eine völlig neue Außenpolitik – die Flüchtlinge in die europäischen Gesellschaften integriert werden. Zumindest in Deutschland kann (und wird wahrscheinlich) diese historische Herausforderung daran scheitern, dass die Mehrheit der deutschen Bevölkerung in den vergangenen Jahrzehnten nicht zu mündigen Bürgern eines freiheitlich-demokratischen Rechtsstaates, sondern zu politisch wie religiös unmündigen Konsumenten sowie sozial inkompetenten Egoisten erzogen bzw. sozialisiert worden ist. Wer aber seine Identität auf das Haben gründet und wessen Sozialität weitgehend auf den eigenen Mikrokosmos bzw. auf Facebook beschränkt ist, fühlt sich natürlich durch die Flüchtlinge und Asylsuchenden existentiell bedroht oder auch nur in seiner spießbürgerlichen Ruhe gestört.
Deshalb wird Deutschland – als eines der materiell reichsten Länder der Erde – durch die Flüchtlingskrise entweder zu neuem Leben erwachen, indem es sich ernsthaft und konsequent auf den europäischen Humanismus sowie die Werte der europäischen Aufklärung besinnt. Oder aber Deutschland wird im Sumpf seines geistlosen Materialismus und Konsumismus sowie der Ungebildetheit (einschließlich Geschichtsvergessenheit) der Mehrheit seiner Bürgerinnen und Bürger versinken, indem (ein weiteres Mal) der Pöbel die Macht übernimmt.
6. These: Angesichts der Flüchtlingskrise erwacht zu neuem Leben nur, wer dem Fremden offen sowie konkreten fremden Menschen persönlich und "auf Augenhöhe" begegnet.
7. These: Die deutsche Bevölkerung kann von den Flüchtlingen und Asylsuchenden nur diejenigen Werte, Normen und Regeln erwarten und einklagen, die sie selbst lebt und verkörpert. Welche Werte, Normen und Regeln sind das? Die Flüchtlingskrise wäre eine Chance, sich darüber zu verständigen (siehe 5. These).
8. These: Über Werte, Normen und Regeln können nur diejenigen qualifizierte Diskurse führen, die historisch, kulturell, philosophisch und religiös weitgehend gebildet sind. Dabei müsste der wissenschaftlichen Diskurs unter einer elementaren Voraussetzung geführt werden: Natur- und Wirtschaftswissenschaften sind wichtig; aber ohne die Begleitung der Geisteswissenschaften vernichten sie Leben physisch wie psychisch.
9. These: Alles Gerede von einer "deutschen Leitkultur" ist deshalb hohl, weil es eine solche Leitkultur nicht gibt. Und wenn es eine solche je gegeben haben sollte (was ich gerade für Deutschland als "verspätete Nation" bezweifele), muss für Deutschland am Beginn des 21. Jahrhunderts – und zwar völlig unabhängig von der aktuellen Flüchtlingskrise – festgestellt werden: "Deutschland schafft sich im Eiltempo ab durch die Globalisierung von Waren und Dienstleistungen." (3) Und zu ergänzen ist: Aufgrund der sich vielerorts vollziehenden Vernachlässigung oder sogar Verdrängung von künstlerischer einschließlich musischer, von philosophischer einschließlich ethischer, und nicht zuletzt von theologischer einschließlich religiöser, aber auch überhaupt von sprachlicher einschließlich literarischer Bildung in den letzten Jahrzehnten, hat sich Deutschland als "Kulturnation" bereits weitgehend abgeschafft!
10. These: Gerne würde ich der "linken" Politikerin Sahra Wagenknecht zustimmen, wenn sie sagt: "Wenn aktuell jemand in Deutschland Leitkultur verkörpert, sind das vor allem die vielen tausend ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer, die durch ihr Engagement für Flüchtlinge in den letzten Monaten das Staatsversagen in der Flüchtlingskrise zumindest partiell ausgeglichen haben." (4) Leider befürchte ich, dass diese "vielen tausend ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer" einerseits von der deutschen Politik auch zukünftig mehr oder weniger allein gelassen werden, und dass sie andererseits sowieso nur die Repräsentantinnen und Repräsentanten einer Minderheit sind (siehe 5. These).
11. These: Wer Obergrenzen für die Zahl von Flüchtlingen und Asylsuchenden fordert oder sich sogar für die völlige Abschottung der europäischen Grenzen einsetzt, soll sich deutlich dazu bekennen, dass er bereit ist, für seine Ruhe und seinen Wohlstand Hunderttausende von Menschen im Bomben- und Kugelhagel, im Mittelmeer oder im Stacheldraht der Grenzzäune "verrecken" zu lassen. Aufrichtige und aufrechte Christinnen und Christen werden darüber immer wieder traurig und verzweifelt sein und mit allen ihren Kräften gegen eine solche gottlose Unmenschlichkeit ankämpfen. Überrascht sind sie freilich nicht, "denn das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf." (5) Zur konsequenten Mitmenschlichkeit bzw. zu einem menschlichen Menschen muss das mehr oder weniger intelligente Säugetier "Mensch" von seinem tödlichen Egoismus erlöst werden! Eine solche Erlösung ist aber – wenn sie geschieht – ein "metaphysisches" Geschehen.
Christian Reich
(Januar 2016)
Quellen:
(1) Vgl. Michael Lüders, Wer den Wind sät. Was westliche Politik im Orient anrichtet, München 2015.
(2) Armen Avanessian, Ist die Flüchtlingskrise eine direkte Folge des globalen Kapitalismus?, in: Philosophie
Magazin Nr. 02/2016, S. 49.
(3) Richard David Precht, Echte Träume, echte Not. Wohin wir driften, wer Deutschland abschafft, und
warum die Flüchtlinge nicht hier sind, um uns zu nutzen, in: DIE ZEIT. Wochenzeitung für Politik, Wirtschaft,
Wissen und Kultur, Nr. 1/30.12.2015, S. 40.
(4) Sahra Wagenknecht, Leitkultur ist …, in: Cicero. Magazin für politische Kultur, Nr. 12/2015, S. 45.
(5) DIE BIBEL, 1. Mose (Genesis), Kapitel 8, Vers 21, nach der Übersetzung Martin Luthers.