"Ich staune immer, wie schlecht sie waren..."

Reportagen und Erinnerungen des "Westkorrespondenten" Karl-Heinz Baum

(2. März 2020)  "Ich staune immer, wie schlecht sie waren...", berichtet Karl-Heinz Baum, ehemaliger Korrespondent der Frankfurter Rundschau in Ostberlin von 1977 bis 1990. Gemeint war damit die Staatssicherheit der DDR, die in ihm einen gefährlichen Mann sahen, eben weil er bodenständig und nicht so schnöselig wirkte, wie man das von einem Wessi erwartete. Baum schrieb über das, was er sah, und belegte es mit persönlichen Eindrücken und Geschichten der Ostberliner und anderer DDR-Bürger. Die Stasi attestierte ihm in seiner viele Bände umfassenden Akte einen intelligenten, aber unakademischen Schreibstil, glaubwürdig, hintergründig, aber persönlich und gut lesbar. Deswegen ließen ihn die Menschen an sich ran, erzählten ihm ihre Geschichten, ihre Geheimnisse und das machte ihn gefährlich. "Er ist nicht greifbar und er infiziert den braven Bürger - eine subversive Methode zur Destabilisierung der sozialistischen Staaten", heißt es in der Stasi-Akte. Erich Mielkes Behörde bescheinigte ihm, die DDR von innen heraus zu zersetzen.

Ich habe sie immer bemerkt

"Bis auf einmal habe ich es immer gemerkt, wenn sie mir folgten oder wenn sie in meiner Wohnung waren", berichtet der ehemalige Spitzenreporter den interessierten Zuhörern im KULTURsaalON des Hohen Neuendorfer Rathauses am Freitagabend. Einmal hatten sie in seiner Wohnung eine Wanze versteckt, um ihn abzuhören. Er ließ am selben Abend noch einfach einen großen Stapel Zeitungen darauf fallen. Kaputt... die Wanze, übrigens ein Westprodukt; die Stasi beehrte ihn daraufhin nicht mehr zuhause. Aber Karl-Heinz Baum war sich bei allem stets bewusst, hier priviligiert zu sein. "Mir konnte nichts passieren, aber ich wusste, welche Willkür und Folter hingegen DDR-Bürgern in durchaus auch konstruierten Fällten drohten. Bei mir fanden sie nichts, keine Adressen oder Notizen - ich hatte alle Kontaktdaten im Kopf." Kleidungsstil, Familienverhältnisse, Persönlichkeit, Kontostand... alles schien die Stasi würdig zu dokumentieren. Informelle Mitarbeiter sollte ihn ausspionieren, sogar indem sie eine intime Beziehung aufbauen sollten. Meist fanden die Menschen mit oder ohne ihn Lösungen, ohne ihm zu schaden.

Große Geschichten schreibt man nur, wenn man hinfährt

Authentisch erzählt der 1941 in Breslau geborene Journalist, der in Hamburg aufwuchs und in Bremen und Berlin an der Freien Universität studierte, von den großen Ereignissen weltpolitischer Bedeutung ebenso belustigt und unpretentiös wie über die kleinen Ereignisse im Leben von Menschen, die gelernt hatten mit dem Mangel zu leben. Oranienburgs früherer Bürgermeister Hans-Joachim Laesicke sitzt neben ihm, liest Auszüge aus den Reportagen vor und bildet so die chronologische Zeitreise-Klammer rund um die Berichte des Journalisten. Beide lernten sich vor dreißig Jahren kennen, als Baum in Oranienburg anklopfte: "Wie kriegt ihr das denn jetzt hin, mit dem neuen System..." - damals war Hansi Laesicke stellvertretender Bürgermeister und Kämmerer bei Udo Semper, Oranienburgs erstem frei gewähltem Bürgermeister. "Mir war die Bedeutung des Versprechers von Schabowsky gleich klar, vielen anderen nicht", berichtet Baum von der legendären Pressekonferenz, bei der er dabei war. Er setzt sich an diesem Abend ins Auto und fährt zur Bornholmer Straße, denn "große Geschichten schreibt man nur, wenn man hinfährt". Er nimmt zwei junge Männer mit, die am 9. Novmeber 1989 zur frisch geöffneten Grenze wollen. "Und was wollen Sie da?", fragt er scheinbar unbedarft. "Die Grenze ist offen, darauf habe ich 28 Jahre gewartet", sagt einer der beiden 26-jährigen Männer euphorisch. 

Die Deutschen zweiter Klasse

Und Karl-Heinz Baum fährt überall hin, oft früh, bevor die Stasi mit der Abriegelung der Areale vor Ereignissen beginnt - und so ist er oft schon dort, bevor ihn jemand abhalten kann. So erlebt er die Beerdigung des letzten Maueropfers Chris Gueffroy mit, nachdem er bei -25 Grad Celsius auf dem Friedhof in Oberschöneweide mehrere Stunden ausgeharrt hat und fast erfroren wäre. Er verhilft mit seinem Pressestatus einem späten Buchenwaldopfer zu Zutritt zu einer internen Gedenkveranstaltung und hat die Schlagzeile von dessen ungeplantem Auftritt somit aus erster Hand. Er erfährt von Wahlfälschungen, weil er in die Wahllokale im ganzen Land fährt und ihm die Menschen erzählen, dass sie die Tür nicht aufmachten, wenn die Behörden mit den fliegenden Wahlurnen an die Tür kamen - wenn sie dann aber später doch noch wählen wollten, hörten sie: "Sie haben doch schon gewählt". Beim Pferdemarkt in Havelberg, dem größten Flohmarkt der DDR, erlebt er mit, wie Marktwirtschaft offenbar wie ein im Menschen angelegtes Gebaren wirkt. Und er lernt die Menschen und ihre Zweifel verstehen, die trotz einer vom Werbefernsehen gesteuerten hohen Meinung von der BRD, den Wessi blasiert finden, wenn sie als Deutsche zweiter Klasse behandelt werden: weil Ulf Meerbold zum Beispiel als erster Deutscher im All gefeiert wird, obwohl Siegmund Jähn schon vor ihm flog, oder bei Berichten im Sport vom besten Deutschen auf dem 17. Platz die Rede ist, der Sieger aber "Vorname Name aus der DDR" betitelt wurde.

Prädikat: Lesenswert!

Gleichermaßen aufschlussreich wie unterhaltsam lassen die beiden Herren an diesem Abend die inneren Konflikte zwischen Osten und Westen, Ossis und Wessis sichtbar werden, festgehalten in Reportagen und Erinnerungen. Das Buch "Kein Indianerspiel - DDR-Reportagen eines Westjournalisten" ist in überarbeiteter Auflage im März 2019 im Christoph Links Verlag erschienen und kostet rd. 15 Euro. Empfehlung: Lesenswert!