34 Schritte
(13.08.2016) "Sie kannten sich nicht. Sie gehörten offenbar keiner konspirativen Gruppe an. Sie waren weder kriminell noch besonders auffällig. Sie waren alle jung und lebenshungrig. Waren sie besonders mutig? Oder besonders dumm? Wahrscheinlich wollten sie sich bloß nicht damit abfinden, ihr Leben in den engen räumlichen, geistigen und materiellen Grenzen zu verbringen, die der Staat ihnen aufdiktierte. Es hätte grundsätzlich jeder von uns sein können", unterstrich Bürgermeister Steffen Apelt die Willkür des Todes junger Menschen zum 55. Jahrestag des Mauerbaus am Bergfelder Waldjugendweg während einer Kranzniederlegung im Gedenken an die Opfer der innerdeutschen Grenze. "Am 13. August 1961 sperrte die DDR-Staatsmacht ihr Volk ein – sich selbst nicht eingestehend, dass schon dies einer Bankrotterklärung des Systems gleichkam, dem die Menschen wegliefen. Sie nahmen Zehntausenden ihre persönliche Lebensperspektive. Über 100 Menschen starben zwischen 1961 und 1989 an den 155 Kilometer langen Grenzanlagen rund um West-Berlin, weil sie versuchten, in die Freiheit zu gelangen. Die Mauer ist Geschichte. Aber wir dürfen sie nicht vergessen. Hier vor Ort, ist es unsere Verantwortung, die Erinnerung wachzuhalten und an die nächste Generation weiterzugeben, Freiheit und Demokratie in wertschätzender Weise zur Sache und zu den Menschen zu pflegen und alles zu tun, damit solches Unrecht nie wieder geschieht."
Bürgermeister und Stadtverordnete erinnern an Maueropfer
Auch Dr. Uwe Sukowski (Bündnis 90/Die Grünen), 2. stellvertretende Vorsitzende der Stadtverordnetenversammlung, betonte, dass die DDR mit diesen Grenzanlagen die eigene Bevölkerung zum Feind deklarierte und niederschoss. Er würdigte die Freiheit und Chance auf Selbstverwirklichung, die uns so selbstverständlich scheinen. Anstelle des ehemaligen Grenzstreifens finde man nun blühende Landschaften. Die Mauer sei verschwunden, auch aus den Köpfen. Die Deutsche Waldjugend hat seit Anfang der 1990er Jahre rund 80.000 Bäume im ehemaligen Grenzstreifen gepflanzt.
Auf dem Hohen Neuendorfer Stadtgebiet fanden vier Menschen an der Mauer bei Fluchtversuchen den Tod. "Sie wären jetzt etwa 70 Jahre alt, aber sie durften dieses Leben nicht leben", machte der parteilose Stadtverordnete Marian Przybilla die Tragweite deutlich. "Mit Schülern gehe ich manchmal in den Wald und wir gehen den Weg nach: Von dem Punkt, an dem Joachim Mehr erschossen wurde, bis nach West-Berlin waren es 34 Schritte."
Vier Maueropfer im Hohen Neuendorfer Grenzgebiet
In der Nacht vom 2. auf den 3. Dezember 1964 wird im Norden von Berlin der Fluchtversuch von zwei jungen Männern mit Waffengewalt vereitelt. Es ist ein spontaner Fluchtversuch. Der 19-jährige Joachim Mehr wird erschossen, nachdem er im Grenzgebiet bereits hilflos in Stacheldraht verheddert liegt, aufgegeben hat und die Grenzsoldaten um Rettung bittet. Sein schwer verletzter Begleiter wird ins Hennigsdorfer Krankenhaus gebracht und überlebt. Der Grenzsoldat wird zu 18 Monaten auf Bewährung wegen Totschlags verurteilt.
Willi Born aus Velten leistete seinen Wehrdienst beim motorisierten Schützenregiment Oranienburg ab. Fast 20 Jahre alt ist er, als er im Juli 1970 mitsamt seines Maschinengewehrs aus der Kaserne flieht und über die Grenze will. Als er erkennt, dass seine Flucht entdeckt wurde und aussichtlos ist, erschießt er sich.
In den ersten Tagen des Jahres 1971 wendet sich der 19-jährige Rolf-Dieter Kabelitz nach heftigem Streit von seinem Elternhaus ab. Die Eltern sind SED-Mitglieder und kommen mit dem rebellischen Jugendlichen nicht mehr klar. Er fährt mit der S-Bahn von Berlin nach Oranienburg. Warum er zu Fuß bei dichter Schneedecke in der Nähe der Bahngleise in Bergfelde unterwegs ist, als er an den Grenzanlagen Alarm auslöst, kann nie geklärt werden. Als er mit Fährtenhunden gejagt und gestellt wird, läuft er von der Grenze weg und versichert, nicht fliehen zu wollen, sondern sich verlaufen zu haben. Er wird dennoch schwer angeschossen und erliegt im Hennigsdorfer Krankenhaus nach 23 Tagen einer Lungenentzündung.
Ein viertes Opfer starb an der Florastraße. Marienetta Jirkowsky, mit deren Schicksal sich die Stadt Hohen Neuendorf bisher am meisten beschäftigt hat. Die 18-Jährige floh ebenso wie die anderen wahrscheinlich viel weniger "weg von" als "hin zu" der Verheißung eines Lebens in Selbstbestimmtheit, Freiheit und Selbstverwirklichung, wie es der Westen versprach. Sie wurde von einem Querschläger getroffen, ihre beiden Begleiter schafften die Flucht über die Mauer.
Mehr als 1.800 Menschen, davon 138 rund um Berlin, verloren an der innerdeutschen Grenze ihr Leben.
Marian Przybilla für Aufbereitung der Erinnerungskultur gewürdigt
Die besondere Leistung von Marian Przybilla im Rahmen der Erinnerungskultur würdigte auch der Bürgermeister: "Die Aufarbeitung der Schicksale der Maueropfer auf unserem Stadtgebiet, den Kontakt zur Gedenkstätte Berliner Mauer, die Präsenz des Themas und den Kontakt zu Zeitzeugen wie Falko Vogt verdanken wir seinem Interesse, seiner Unermüdlichkeit und seiner Bereitschaft, weiter zu machen, auch wenn die Wege steinig wurden. Danke!" Als Naturschutzturm übernahm Przybilla gemeinsam mit Lehrerkollegin Helga Garduhn 1990 einen von 302 Grenztürmen entlang der Berliner Mauer, heute sind nur noch vier dieser Türme erhalten.
Mauerweglauf in Gedenken an Maueropfer
Auch der seit 2011 von der LG Mauerweg Berlin e.V. organisierte Mauerweglauf "100 Meilen Berlin" fand in diesem Jahr wieder statt. Mehr als 700 Einzelläufer und 100 Mannschaften liefen die rund 161 Kilometer lange Strecke um bzw. durch Berlin und kamen auch am Naturschutzturm Bergfelde vorbei. Der diesjährige Lauf stand im Gedenken an Karl-Heinz Kube, der 1966 in Kleinmachnow erschossen wurde, als er über die Mauer nach Westberlin zu fliehen versuchte.