Was bleibt ist Liebe... und eine Fotografie

Zeitzeugin Ruth Winkelmann liest im Rathaus aus "Plötzlich hieß ich Sara"

(03.02.2017)  Ruth Winkelmann geht in die fünfte Klasse einer jüdischen Schule im Berliner Scheunenviertel. Jeden Morgen fährt sie mit ihrem Vater und ihrem Großvater mit dem Auto von ihrem Wohnort Hohen Neuendorf nach Berlin. Jeden Morgen gibt Opa Georg Jacks ihr einen Groschen, für ein gutes Frühstück in der Schule. Davon kauft sie morgens vor der Schule am Obststand für einen Sechser einen Apfel und spart die anderen fünf Pfennige heimlich auf, um nachmittags am Kiosk in Birkenwerder, wo sie mit der S-Bahn nach der Schule wieder ankommt, für den aufgesparten Sechser ein Nappo zu kaufen, eine rautenförmige, schokolade-ummantelte Nougat-Süßigkeit. Ruth Winkelmann reicht sie an diesem Abend illustrativ und für jeden zum Probieren im Saal herum, als sie ihre Geschichten liest. Für Ruth Winkelmann steht es in ihrer Geschichte für Normalität, Sicherheit und Alltag in einer um sie herum zerbrechenden Welt. Nappo gibt es heute noch. An diesem Abend sagt diese Süßigkeit daher auch: Was auch immer passiert - die Welt dreht sich weiter und es liegt an jedem von uns, wie wir sie gestalten, welches Gesicht wir ihr geben. Das ist die große Botschaft des Abends, verpackt in ein kleines buntes Silberpapier, denn in dem, was Ruth Winkelmann, geborene Jacks, an diesem 27. Januar 2017, dem Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Ausschwitz vorträgt, sind so erschreckend viele Parallelen zu unserer heutigen Zeit...

Die Reichsprogromnacht verändert ihr Leben: "Von diesem Tag an war ich erwachsen"

An jenem 10. November 1938 zeugen zerschlagene Fensterscheiben, Schmierereien und eine angstgeschwängerte Stimmung in Berlin von einer Veränderung, die die zehnjährige Ruth zwar fühlt, aber nicht einordnen kann. Hohen Neuendorf beschreibt sie als Gesellschaft, die nicht zwischen Glaubenszugehörigkeiten unterschied, in der Juden vollkommen integriert lebten, man gar nicht wusste, wer jüdisch war und wer nicht. Als sie an diesem Morgen in Berlin beobachten muss, wie zwei Uniformierte willkürlich einen wehrlosen Mann ergreifen, weil dieser einen dunklen, langen Mantel und Schläfenlocken trägt, ihn zusammenschlagen und schließlich mit weißer Farbe einen Judenstern auf seinen Mantel schmieren, zerbricht ihre Welt jäh: "Ab diesem Moment war ich erwachsen", sagt sie. Auch in der Schule ist alles anders, die Mädchen müssen paarweise über die Hausdächer fliehen, weil die Ein- und Ausgänge von Nazis besetzt und jüdische Gebäude angezündet werden. Erst als ihre Freundin Lilly und sie mit Herzklopfen außerhalb des Judenviertels ankommen, interessiert sich niemand mehr dafür, dass sie jüdisch sind. Schließlich erreichen sie den S-Bahnhof und Ruth kommt unversehrt in Birkenwerder an. Sie kauft sich am Kiosk ein Nappo und für einen Moment ist die Welt wieder im Lot.

Das war der letzte Tag, an dem Ruth eine Schule besuchte. Viereinhalb Jahre ging sie zur Schule. Das Abitur konnte sie nie mehr nachholen, lernte nach dem Krieg einen Beruf, bereiste die Welt, aber Sprachen fallen ihr schwer. Sie beschwert sich nicht, aber man spürt, dass sie gerne so viel mehr Potenzial ausgeschöpft, der Welt gerne viel mehr ihrer Geheimnisse entrissen hätte. Dabei ist es genau ihre Gradlinigkeit, Klarheit, emotionale und intellektuelle Unverstelltheit, die nachfolgenden Generationen den Zugang zu dem Unvorstellbaren, dem Unmenschlichen, dem sinnlos hasserfüllten Völkermord eröffnen. Deshalb ist es so wichtig, dass die inzwischen 88-Jährige sich unermüdlich mit Schulklassen in Lesungen und Begegnungen auseinandersetzt.

"In jeder Gesellschaft gibt es so'ne und solche, aber auch ganz andere"

Als einzige von 32 jüdischen Familienmitgliedern überlebt Ruth Winkelmann den Krieg. Der Vater, die Großeltern, Onkel, Tanten, Cousins werden deportiert; ihr Schicksal bleibt noch Jahre ungewiss. Die Ehe der Eltern wird zwangsgeschieden. Noch lange nach dem Krieg rennt Ruth auf der Straße wildfremden Menschen nach, weil sie hofft, ein Familienmitglied wiedergefunden zu haben - und wird jedes Mal enttäuscht. "Meinen Vati glaubte ich mindestens zehn Mal irgendwo gesehen zu haben", berichtet sie. Heute zeugen in Hohen Neuendorf Stolpersteine für den Vater Hermann und die Großeltern Ernestine und Georg Jacks in der Birkenwerder- und in der Erdmannstraße von ihrem Schicksal.

Ruth überlebt mit ihrer Mutter und Schwester versteckt in der Laube eines NSDAP-Mitgliedes, der ihre Mutter verehrt und später auch ihr Stiefvater wird. Dort gibt es keinen Strom, kein Wasser und nur einen Ofen, aber wenig Brennmaterial. Ihre sechsjährige kleine Schwester ist dreizehn Stunden am Tag allein in der Laube, weil die Mutter und Ruth arbeiten müssen. Als Halbjüdin und Mitglied der jüdischen Gemeinde ist sie als sogenannte "Geltungsjüdin" verpflichtet einen gelben Stern zu tragen - deshalb ist sie Repressalien ausgesetzt. Die Schwester stirbt an Diphterie, weil es keine Medikamente gibt, schon gar nicht für Juden. Doch andererseits helfen immer wieder unerwartet Menschen. Das Mädchen Ruth muss in einer Fabrik verdreckte Uniformen von der Front ausbessern, manchmal schläft sie erschöpft zwischen den Maschinen auf dem Boden ein, aber der Aufseher sieht darüber hinweg. Später, gegen Kriegsende, als Phosphorbomben Straßen zerstört haben, kann man diese Straßenabschnitte nur auf einer Decke passieren, die man am anderen Ende einer nächsten Person weitergibt. Sie bekommt auch eine Decke, obwohl sei einen Stern trägt. "Es gibt in jeder Gesellschaft, in jedem Volk so'ne und solche, aber eben auch ganz andere", sagt Ruth Winkelmann an diesem Abend im Rathaus mehrfach und appelliert an die Zuhörer, niemals ein ganzes Volk über einen Kamm zu scheren. Und auch darin ist sie in ihrer Botschaft brisant aktuell.

Ruth Jacks überlebt den Krieg körperlich unversehrt, heiratet und wird mit ihrem Mann glücklich. "Ich habe Glück gehabt", sagt sie. Sie konvertiert zum christlichen Glauben und lebt tiefgläubig eine sehr individuelle Religion. Sie hat einen Sohn und inzwischen Enkel und Urenkel. Heute wieder eine große Familie zu haben, ist ihr größtes Geschenk. Ihre Geschichte trägt sie weiterhin in Lesungen und Vorträgen in die Welt. "Wer mir eine Frage hat oder mit mir sprechen will, kann mich jederzeit anrufen - ich stehe im Telefonbuch!" Ihre Geschichte ist in zehn Episoden in dem Taschenbuch "Plötzlich hieß ich Sara" in der 2. Auflage im Jaron Verlag erschienen und kostet 8 Euro (ISBN 978-3-89773-664-1).

Von ihrer geliebten Familie blieb ihr nur dieses Foto - und liebevolle Erinnerungen